Er sitzt mir gegenüber, seine großen Augen voller Kinderschimmer strahlen mich entzückt an, er redet vom Beruflichen, er schaut privat. Er ist groß, behaart, stark, robust, ein Mann, ein stattlicher Mann voller Elan, er ist erfolgreich, schön, hatte viele Frauen. Er verletzte sicher nicht nur Eine. Von Einer weiß ich es sicher, es war Sommer als sie es uns mitteilte, als sie es schriftlich festhielt, dass da was war. Was es war, wissen nur sie und er, oder er und sie. Wahrscheinlich weiß er das Eine und sie das Andere, die Wahrnehmung ist unterschiedlich, jedes Auge sieht anders und jedes Herz hat seinen eigenen Rhythmus. Ob seins schneller schlug, oder das Ihre, das wissen nur die Beiden, oder auch keiner der Beiden. Ich vermute, dass es das Ihre war, das schneller schlug. Doch was sind schon Vermutungen?
Wenn ich so in seine Augen schaue, dann fange ich an zu träumen, ich sehe seine Träume vor mir, als wären es meine oder gar unsere. Ich spiegele mich in seinen Augen, surfe auf dem Blau des Kinderschimmers. Die langen braunen Wimpern schwingen im Takt mit der sommerlichen Windbrise. Ich stehe vor der weiten Ferne der azurblauen Unendlichkeit und sehne mich nach der Ewigkeit. Ich möchte abspringen in die Tiefen des Ozeans, der sich vor meinen Augen ausbreitet, doch unsere fachlich hochwertige Konversation hindert mich an dem mutigen Schritt.
Es ist ein Spiel mit der Existenz, dem Leben, ein Spiel mit unseren Träumen. Wir spielen Fangen mit unseren sehnlichsten Wünschen und Leidenschaften. Wir belügen uns dabei doppelt, dreifach, ein Vielfaches, so oft es möglich ist und immer wieder. Ist er glücklich frage ich mich? Lebt er seine Träume? Ist er hier am richtigen Fleck? Bin ich das? Ist die dahinten glücklich? Die eine, die schon drei Monate hier ist, doch für mich stets namenlos bleibt, weil ihre Augen nicht hell genug strahlen. Hält sie sich vom Strahlen ab, bis sie sich nach dem Strahlen ihrer Augen, ausgelöst durch das Strahlen ihres Herzens, zu verzehren beginnt? Besitzt sie die emotionale Feinheit, so einen Wunsch zu verspüren? Lebt sie in Blindheit, weil es ihrem Geist an Feinheit fehlt? Ich frage mich, ob so ein Leben in emotionaler Stumpfheit wohl einfacher ist, als das eines Menschen, der zu seinem Glück oder auch Pech in der Lage ist, und sich sogar durch unerklärliche Kräfte genötigt fühlt, den Gipfel der Emotionen tagein tagaus zu erklimmen?
Der starke behaarte Mann besitzt die Feinheit von der ich spreche, er besitzt sie zu genüge. Er sieht plump aus, groß und grob, doch er besitzt sie. Seine Augen verraten ihn. Sie haben sich sicher seit über vierzig Jahren nicht verändert, er hat sich vierzig Jahre lang nicht entmutigen und seine Illusionen nicht nehmen lassen. Während er redet und ich leicht schmunzeln muss, weil diese kindlich strahlenden Augen in der wohl männlichsten Hülle, die man sich vorstellen kann, mich unglaublich verwirren, unsicher machen, emotional aufwühlen. Ich kämpfe stark damit nicht beeindruckt zu wirken, doch ich habe eine Obsession für Augen. Sie zu lesen und zu fühlen ist mein liebstes Hobby. Ich bewundere diesen Glanz, liebe diese Lebensfreude, das Freche, das Kindliche, das Leben in diesen Augen, sie sind blau, ich mag gar keine blauen Augen, doch es geht um den Inhalt und dieser ist tief und viel und weit aber auch ganz nah. Mir ist bewusst, dass man mir die Feinheit, die ich besitze, nicht immer zutraut. Doch genau das macht sie zu meiner größten Waffe und meiner größten Liebe. Viele denken ich hätte keine Geheimnisse, doch mein Geheimnis ist groß und fern und tief und weit und vor allem daraus bestehend, dass möge ich mich auch mitteilen so viel ich nur möchte und mit all meiner Leidenschaft meine Gedanken mit meiner Umwelt teilen, möge ich mich auch maximal dabei bemühen, so bleiben die wahren Weisheiten, die unerschöpfliche Fülle an Erkenntnissen sowie all das, was wirklich in mir vorgeht bei mir allein und kaum jemandem zugänglich. Meine ganz persönliche Reflexion von Reflexionen ist meine Waffe. Dann sollen sie mich halt unterschätzen. Sie brauchen nur in meine Augen zu schauen, dann wissen sie es, wie ich es gerade beim behaarten Mann weiß, vorausgesetzt sie haben die Gabe es zu sehen.
Er schaut mich leicht irritiert an, wahrscheinlich fragt er sich, was in mir vorgeht. Ich werde es ihm niemals verraten. Er merkt ich rede vom Beruflichen, doch er sieht mich in die Ferne blicken, in die Ferne seiner Augen. Auf ein Mal ändert sich die Farbe seiner Augen, irgendetwas passiert. Er hört auf zu reden, ich beginne zuzuhören. Er sitzt mir gegenüber, Ellenbogen auf dem Stehtisch abgelegt, der Kopf liegt in seiner Hand. Es muss ein schwerer Kopf sein, denke ich, doch diese Farbänderung in seinen Augen, die mich anstrahlt, lässt mich meine Theorien über das Gewicht von Körperteilen aufgrund von mangelnder Relevanz verwerfen. Manchmal will man an einem anderen Ort sein, wieso ist man hier und redet über irrelevanten Mist? Wieso machen sich Menschen Arbeit? Sie sitzen da und träumen von den nächsten kleinen Aufgaben, die sie sich selbst auftragen können um ihr kleinkariertes leeres Leben mit Handlung zu füllen. Das Träumen ist die einzig wahrhaftige Handlung, oder zumindest die, mit der es beginnen sollte, alles, das Leben. Die fiktiv-erforderlichen Handlungen sind unser Untergang. Oder unsere Rettung? Unsere Scheinrettung?
Wenn ich die Menschen einfach vor sich hin existieren sehe, sich dem System fügen, einfach mit leerem Blick da sitzen oder die Straße hinunterlaufen, geradeaus, steif im grauen Jacket und schwarzer Sonnenbrille, dann will ich sie anhalten, sie an den Schultern nehmen, ihnen tief in die Augen sehen und sagen:
„Lauf von der Arbeit nach Hause mit zu lauter und gesundheitsschädigender Musik in den Ohren, bewege deine Hüfte zum Klang dieser zu lauten Musik und vergesse die Welt um dich herum. Lege dich auf den Rasen und rieche an dem Flyer, der dir von einem hässlichen Jungen mit großen Augen in die Hand gedrückt wurde. Lache die Punks, die da am Straßenrand Gruppenkuscheln veranstalten an und frage sie nach einem Bier und einem Platz in ihrer Kuschelrunde. Bleibe doch einfach mal stehen, drehe dich im Kreis und mache dabei deine Augen zu. Atme ganz tief ein und rieche das Parfüm der schönen Brünette, die gerade an dir vorbeiläuft, genieße es mit allen deinen Sinnen. Mache die Augen wieder auf und laufe die Straße hinunter und schaue nur in den Himmel hinauf, du kannst nicht glauben, was für eine Kraft der Himmel dir geben kann! Setze dich zu dem Mann mit der Gitarre und dem Verstärker und gehe nicht dich ständig umdrehend voller Sehnsucht davon. Setze dich genau vor ihn in einen Schneidersitz, auch wenn die Entfernung zu nah ist und der Verstärker zu leistungsstark, der Boden zu kalt, deine Jeans zu teuer. Schau ihn direkt an, lese seine Augen. Spreche mit seinen Augen. Frage sie was sie erlebt haben. Antworte ihnen. Höre dabei zu, fühle seinen Gesang, höre nicht die Worte. Die Worte gehören nicht ihm, das Gefühl mit dem er singt ist seins. Dieser Song gehört ihr, er sing ihn für sie. Verstrichene Liebe, es war nicht seine Entscheidung, dass es zu Ende war. Lebe das Leben, es hat viel zu bieten. Spüre die Menschen um dich herum. Jeder hat seine Geschichte und die Augen erzählen sie dir, du brauchst ihn nicht zu fragen, die Augen werden dir alles, was du wissen willst erzählen! Und gleich wird dir die Welt viel bunter, viel vielfältiger erscheinen und du wirst Sinn spüren. Das ist es, worum es im Leben geht. Sinn. Und Liebe. Wo Sinn ist, ist Liebe. Wo Liebe ist, ist Sinn.“
Meine Gedanken schweifen aus, fliegen hoch, prassen auf den Büroboden hinunter, rappeln sich wieder auf und dieser Vorgang wiederholt sich immer und immer wieder und das jeden Tag und jetzt gerade wieder.
Momente wie mit ihm, dem großen, interessanten, kreativ-verrückten Mann mit Kinderaugen, das sind inspirierende Momente, man muss sie nutzen, man muss sie genießen. Vor langer Zeit schon wurde mir klar, dass es nicht die Unternehmungen sind, nicht die Veranstaltungen, nicht die Dinge die wir machen, nein, es sind die Momente, die Augenblicke, die uns bereichern und uns tatsächlich etwas geben. Das Wort „Augenblick“ heißt nicht umsonst so, es sind die Blicke in die Augen von uns geliebten, uns bekannten und uns unbekannten, geheimnisvollen Menschen, die uns die größten Freuden bereiten. Und größte Freuden kommen von großen Emotionen. Emotionen gibt es jedoch nur zwischen Mensch und Mensch. Wir brauchen uns wohl alle gegenseitig, das müssen wir uns eingestehen. Aber die Weise auf die wir uns brauchen, das herauszufinden, darin liegt die allgegenwärtige Herausforderung. Und die höchste Kunst, diese besteht darin, die Menschen zum sich Öffnen zu bringen, um diese Momente als wahrhaftige Augenblicke erleben zu können.
Er sitzt mir immer noch gegenüber, es gibt viel zu besprechen, so irrelevant diese Inhalte auch sein mögen. Während er von der Aufbereitung der Inhalte spricht, die er von mir erwartet, stelle ich mir vor wie es wohl sein mochte, als er das erste Mal verliebt war.
Ich sehe ihn in dem Partykeller des Hauses seiner Eltern auf dem laminierten Boden sitzen. Das Licht ist aus. Aus der Dunkelheit strahlt ein breites Lächeln einer lebenslustigen Blondine hervor, es zieht mich sofort in seinen Bann. Wie muss es dem Jungen dort auf dem Boden denn erst ergehen, wenn ich als außenstehende Träumerin schon beeindruckt bin? Da sitz er, ein großer schlaksiger ungefähr 18-jähriger Typ, halb Mann halb Kind. Seine Haare sind lang und fallen in sein vor Jugendliebe leuchtendes Gesicht, seine Mundwinkel sind oben, seine strahlendblauen Augen leuchten ebenfalls und starren auf die Leinwand mit dem projizierten Dia, seine Hose ist an den Knien leicht abgerieben. Er streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, steht auf, rennt schnell zum Projektor, wechselt das Dia, kehrt zügig zur Stelle zurück an der er zuvor saß, schmunzelt und starrt sofort wieder in Richtung Licht.
Sein Blick birgt so viele Emotionen; ganz viel Liebe, Tausend Träume, unendlich viel Hoffnung, Leidenschaft, Sehnsucht aber auch einen Hauch von Unsicherheit und Verlustangst.
Auf dem zweiten Bild ist nun das selbe Mädchen am Strand eines weiten Sees zu sehen. Ihr Körper ist zum Wasser hin gewandt – ihr Gesicht zum Fotografen. Sie lächelt wieder auf ihre ganz spezielle strahlend-zaghafte, sehr bezaubernde Weise. Es scheint, als ob sie ihn zu sich winkt, dabei weht ihr weißes gepunktetes Kleid im Wind genau so wie die blonden Locken Ihres vollen Haares. Sie scheint ihn ebenfalls zu mögen in all ihrer Unbeschwertheit. Sie steht dort und fühlt sich frei, ihr ganzes Leben liegt vor ihr. Noch weiß sie nicht, was für Schwierigkeiten und Probleme auf sie im Laufe ihres Daseins auf dieser Welt zukommen werden und das kümmert sie zu diesem Zeitpunkt auch kein Bisschen. Noch lebt sie in Geborgenheit ihrer sie liebenden Eltern und ist doch frei. Ihr Herz ist noch ganz, noch weiß sie nicht, wie es ist, wenn Teile des Herzens besetzt oder gar zerstört sind, sodass man sich fühlt, als verkleinere sich dieses Herz je älter man wird, je mehr Menschen es berühren und wieder loslassen.
Für dieses Mädchen ist das Leben wunderbar und dieser durch sie ganz verwirrte junge Mann vor ihr, der ganz besessen darauf ist Fotos von ihr zu schießen, hat sie verzaubert vom ersten Augenblick an. Nur zu gern nimmt sie die Rolle seiner Prinzessin ein und verrät nie ganz, dass sie ihm ebenfalls ganz und gar verfallen ist.
Ich stelle mir vor, wie er sich wohl verhalten hat bei der Eroberung dieses Mädchens. Ich sehe seine weltoffenen Augen klar vor mir. Sicherlich hatte er alles für sie getan und die Fotos von ihr hat er noch immer.
Wie das Ende dieser Liebe war, daran will ich jetzt nicht denken, daher beschließe ich mich auf dieses Meeting zu konzentrieren und den Tagtraum zu beenden. Gerade als ich diesen Entschluss fasse, beendet er diese Besprechung. Wie gut, dass Multitasking voll mein Ding ist, ich habe alles notiert, zwinkere ihm zu, nehme meinen Laptop an die Brust und gehe den Gang entlang, erstaunt über die Fülle an Geheimnissen, die mir seine Augen eben verraten haben.